1. Jahrestagung des Forschungszentrums Medical Humanities

nur WWW: 1. Jahrestagung des Forschungszentrums Medical Humanities

Organisatoren
Forschungszentrum Medical Humanities, Innsbruck
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Fand statt
Digital
Vom - Bis
10.12.2021 - 10.12.2021
Von
Nayra Hammann, Fachbereich Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Innsbruck

Die Tagung, bei der die neuen Mitglieder des Forschungszentrums Medical Humanities ihre multidisziplinäre Forschung präsentierten, diente der Vernetzung von Wissenschaftler:innen in Innsbruck sowie dem interdisziplinären Austausch. Pädagog:innen, Linguist:innen, Historiker:innen und Sozialwissenschaftler:innen präsentierten und debattierten Beiträge rund um Krankheit, Immunität und Disability. Eines der Hauptthemen war die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Bei der Erforschung der Beziehungsgeflechte sowohl zwischen einzelnen Körpern als auch zwischen einzelnem Körper und Gruppierungen von Körpern (Gesellschaft) bewiesen die Beiträge und die anknüpfenden Diskussionen das Erkenntnispotential der Medical Humanities.

JEAN PAUL (Innsbruck) eröffnete die Tagung mit einem Beitrag zum vierjährigen Forschungsprojekt „Village“, das ein Hilfsnetzwerk für Kinder von psychisch erkrankten Eltern aufgebaut hat. „Village“-Mitarbeiter:innen haben informelle Unterstützungspartner wie Elternteile, andere Familienmitglieder und Freunde mit formellen Unterstützungspartnern wie dem Gesundheits-, Erziehung- und Sozialsystem verknüpft1. Das Projekt basiert auf dem Open-Innovation-Science-Ansatz2. Für die Mitarbeiter:innen habe dies vor allem bedeutet, eine Forschung zu praktizieren, die die Kinder der Patient:innen als Akteure in jeglicher Phase des Projektes mit berücksichtigte. Die „Stimme des Kindes“ sei somit eine gestalterische und agentielle Stimme gewesen. Damit die im Rahmen des „Village“-Projektes erprobten Maßnahmen auch nachhaltig nützlich blieben, sei die Herausgabe eines Handbuchs geplant, mit dem zukünftige Akteure verstehen könnten, wie eine fruchtbare Zusammenarbeit mit informellen Netzwerkakteuren gestaltet werden kann.

JAN HINRICHSEN (Innsbruck) betrachtete die verschiedenen Semantiken der „Immunität“ im Kontext der COVID-19-Pandemie aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Er beobachtete, wie das Ausweisen, Herstellen und Feststellen der „Immunität“ in sozialen Aushandlungsprozessen gefußt habe. Ziel dieser Aushandlungsprozesse sei die Schaffung der Möglichkeit gewesen, die „Immunität“ ausweisen zu können. Hinrichsen verwies auf die Parallele zwischen dem Ausweisen der „Immunität“ und dem Ausweisen des Geschlechts oder der Nationalität. Letztere hätten mit dem Immunitäts-Ausweis gemeinsam, dass sie eine -materielle (da auf Papier) Antwort auf Fragen der Identität darstellten3. Zudem markiere die Verschriftlichung der Immunität eine Subjektposition; sie markiere die Relation zwischen den Subjekten untereinander, zwischen dem Subjekt und seinem Körper sowie zwischen Subjekten und Macht, so Hinrichsen. Die neuen Verfahren der mRna-Technologie haben darüber hinaus die modernen Körperbilder und -konzepte in Frage gestellt. So habe der konzeptionelle Kern der mRna-Technologie darin bestanden, aus „Natur“ (Körper) eine Maschine zu machen; als Folge löse sich das binäre Wesen des modernen Verständnisses vom Verhältnis zwischen „Natürlichem“ und „Künstlichem“ auf. Stattdessen würde das nachfolgende, postmoderne Verständnis von der Verschmelzung von „Natürlichem“ und „Künstlichem“ ausgehen.

Keine Ausführung über Subjektivierungsprozesse im Kontext der „Covid-Immunität“, aber eine über subjektive Erzählung innerhalb öffentlicher Diskurse bot die Medienlinguistin MARINA IAKUSHEVICH (Innsbruck). Sie widmete sich den medialen Repräsentationen von Depression und arbeitete diskursmächtige Narrative heraus. Ihr Untersuchungskorpus bestand aus ungefähr 700 Texten aus Medien wie FAZ, Zeit und Spiegel im Zeitraum von 1945 bis 2015. Neben diesen klassischen Massenmedien bearbeitete sie zwei Instagram-Accounts, um herauszufinden, wie Depression in den Sozialen Medien verhandelt wurde. Als Motiv für die Berichterstattung arbeitete Iakushevich heraus, dass Autor:innen auf das Thema aufmerksam machen und auch den Austausch über die Krankheitserfahrung normalisieren wollen. In der Berichterstattung der klassischen Zeitungen identifizierte sie drei große Narrative: 1) Depression ist eine Last, 2) Depression ist ein Weg, 3) Depression ist Dunkelheit. Diese Narrative fand sie nicht nur in den Texten vor, sondern auch in den Bildern, die die Texte begleiteten. Iakushevich betonte, dass die aus den Massenmedien bekannten Narrative und bildlichen Repräsentationen Leser:innen geprägt und sich in anderen Medien, wie beispielsweise auf Instagram-Kanälen, fortgesetzt haben. In beiden Medienformaten würde Raum für individuelle Krankheitserfahrung geschaffen, wobei diese subjektiven Erfahrungsberichte in den Sozialen Medien das Grundgerüst der Kommunikation bildeten, während Massenmedien vordergründig auf Wissensvermittlung setzten, die durch subjektive Erfahrungsberichte supplementiert würden.

CHRISTOPH SINGER (Innsbruck) analysierte die Möglich- und Unmöglichkeiten, Traumata in literarischer und filmischer Form zu verarbeiten, und wählte dazu verschiedene literarische Werke aus, darunter die Kurzgeschichte „Story of Your Life“ (2002) von Ted Chiang und Denis Villeneuves Film „Arrival“ (2016), der auf Chiangs Buch basiert. Mit dem Hinweis auf Anne Whiteheads Argument, dass die Narration das Wesen des Traumas spiegeln müsse4, lenkte Singer die Aufmerksamkeit auf Ann Cvetkovichs gattungsübergreifendes Werk „Depression“ (2012). Hier wechselten sich Absätze aus einer wissenschaftlichen Studie über Depression mit autobiographischen Tagebucheinträgen ab; Motive wiederholten sich, ohne dass sie die Handlung des Buches vorantrieben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seien zu einer sinnlosen Einheit zusammengefallen. Singer fasste zusammen: Die Form der Geschichte, die die Erschütterung der drei Tempi und das damit einhergehende Empfinden einer Gleichzeitigkeit beinhaltete, habe den Inhalt der Geschichte vermittelt. Auch in Ted Chiangs Kurzgeschichte sei das Motiv der Gleichzeitigkeit zentral. Was alle literarischen Figuren eine, sei das Bedürfnis, eine Linearität und Kausalität herzustellen. Das Motiv der Gleichzeitigkeit bestimme auch Villeneuves Film „Arrival“. Singer betonte aber auch die Unterschiede zwischen den Werken. Das Kollidieren der verschiedenen Zeitstränge, das Motiv der Gleichzeitigkeit, sei für die literarischen Figuren Chiangs keine positive Erfahrung, während es dem Sujet in Villeneuves Film (Louise Banks) Trost gebe.

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von JOSEFINE WAGNER und THOMAS HOFFMANN (beide Innsbruck) über Fibeln, die im Jahr 1942 für den Unterricht in reichsdeutschen Hilfsschulen eingesetzt wurden. Sie untersuchten die Aussagekraft der Fibeln als Quelle für das Leben der Hilfsschulen-Besucher:innen im Kontext der völkischen Rassenhygiene. Dabei hoben sie hervor, dass die Hilfsschulen bereits in der Kaiserzeit als Entlastung für die Volksschulen dargestellt wurden. Mit dem Besuch der Hilfsschulen sollten deviant auftretende Kinder auf den rechten Weg gebracht und als folgsame, tüchtige und vor allem saubere Kinder wieder in die Gesellschaft integriert werden. Wagner und Hoffmann wiesen darauf hin, dass die völkische Sonder- und Heilpädagogik die Anfänge der Sonderpädagogik bildete, die heutzutage ohne große Reflexion in die inklusive Pädagogik fließe. Sie argumentierten, dass hier Aufholbedarf herrsche und eine inklusive Pädagogik ihre problematischen Wurzeln in der völkischen Sonderpädagogik, die die gesellschaftliche Ausgrenzung und Verfolgung von Behinderten mit zu verantworten hat, zu bedenken habe. Einen ersten Anfang in diese Richtung stellten Wagner und Hoffmann selbst vor. Ziel ihres laufenden Forschungsprojektes sei es, ein Handbuch über Sonderpädagogik zu veröffentlichen, das auch diese Fragen behandelte. Es sei wichtig, dass die völkische Sonderpädagogik ebenso wie die dazugehörigen Quellen (z.B. Fibeln) erforscht und theoretisch und systematisch aufgearbeitet werde. Nur so ließe sich die Kontinuität von Ableism erforschen und neue Blicke auf „Fähigkeits-Faschismus“5 werfen.

Ging es bei Jean Paul um praktische Hilfe für Betroffene, die den Zweck hatte, eine gewisse Normalität in einer instabilen Umwelt herzustellen, betonten Hinrichsen und Iakushevich, wie sehr Krankheit und die damit verbundenen physischen und psychischen Folgen zu einer Instabilität der (vor-)gegebenen Rahmenbedingungen führt. Krankheit, nach dieser Sichtweise, bedeutet eine Umkehrung der Verhältnisse. Die Folge ist, dass sich die Umwelt, will sie sich ihrer annehmen, ebenfalls neu strukturieren muss. Dies erfolgt sowohl im (biologischen) Körper als auch im Sozialkörper „Gesellschaft“. Es bedeutet einmal, biotechnische Entwicklungen zu fördern und neue bürokratische Infrastruktur aufzubauen, ein anderes Mal, neue Erzählungen und Erzählweisen zu suchen, zu finden und in Umlauf zu bringen. Der Fakt, dass Krankheit die vorgegebenen Bedingungen und Existenzweisen in eine Instabilität stürzt, wurde bei Singers Vortrag auf die Spitze getrieben. Hier stand der Moment des Sturzes und eine der stärksten Formen der Instabilität im Mittelpunkt: Was passiert, wenn sich das erzählende Ich und damit die Fähigkeit zu erzählen plötzlich auflöst? Traumatische Erlebnisse lassen die Betroffenen die Zeit nicht mehr in chronologischer Reihenfolge erleben, was tiefgreifende Veränderung für das Narrativ und das erzählende Ich bedeutet: „trauma destroys time“6. Die neuen Erzählungen, die als Folge dieser Veränderung entstehen, sind keine linearen; sie hinterfragen die kulturelle Vormachtstellung der paradigmatischen Erzählstruktur, die beinhaltet, dass auf Ursachen Konsequenzen folgen müssen.

Zeigte Iakushevichs Untersuchung, welche Erzählungen entstehen, wenn Diskurse die subjektiven Geschichten von Betroffenen berücksichtigen, warfen Hoffmann und Wagner ein Schlaglicht auf die Diskurse, die entstehen, wenn die Sender eine klare politische Agenda haben und Erzählungen nicht mit den Betroffenen, sondern über sie hinweg gestalten. In beiden Fällen werden Abweichungen von einem erwünschten Normalzustand als Problem von der Umwelt erkannt. Bildete bei Iakushevich die subjektive Erfahrung der Depressiven eine der Säulen, um die herum die Diskurse gesponnen werden und die zum Ziel hat, dass Angehörige ihre unter Depression leidenden Mitmenschen verstehen können, wurde bei Wagner und Hoffmann ersichtlich, dass die Betroffenen sich der Umwelt anzupassen haben und nicht umgekehrt. Noch einmal anders gelagert ist der Fall bei der fiktiven Linguistin Louise Banks. Diese passt sich zwar einer Umwelt an, aber eben nicht der Menschen-Umwelt, sondern der Alien-Umwelt. Sind die literarischen Figuren aus Cvetkovichs Buch und Chiangs Kurzgeschichte davon getrieben, zu einer ursprünglichen Ordnung (kausal und chronologisch ablaufende Erzählung) zurückzufinden, lässt Louise zu, dass die „alte Ordnung“ hinfällig wird. Sie wird ein anderer, ein Alien. Dadurch, dass die Erzählerin in einem Tempus der Gleichzeitigkeit lebt und der Film die beiden Handlungsstränge (den Übersetzungsauftrag und das traumatische Erlebnis des frühen Todes von Louises Tochter) in umgekehrter Reihenfolge darstellt, als sie in der ursprünglichen Ordnung geschehen sind, ist es für die Zuschauer:innen des Filmes nicht mehr ersichtlich, ob das Lernen der Sprache der Aliens oder das Trauma die Transformation ausgelöst hat. In einer nonlinearen Erzählung gibt es keine Auslöser, keine Ursache. Die Umkehrung der Verhältnisse, die Individuen durch Trauma und Krankheit erleben, löst sich in einer umgekehrten, anderen Welt auf. Rückblickend, und auf Iakushevichs Vortrag zurückkommend, lässt sich resümieren: Krankheit ist vielen eine Last, sie ist jedoch immer ein Weg in eine andere Welt und in ein anderes Ich.

Konferenzübersicht:

Jean Paul (Forschungsgruppe Village; Ludwig-Boltzmann Gesellschaft Innsbruck): Using Open Innovation in Science to Co-design and Evaluate Support for Children of Parents with a Mental Illness in Tyrol

Jan Hinrichsen (Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck): On Conditions of Life: Regimes of Immunity in the Anthropocene

Marina Iakushevich (Institut für Germanistik, Universität Innsbruck): Medikalisierte Öffentlichkeit(en): Mediendiskursive Praktiken von Depressionsdarstellungen

Christoph Singer (Institut für Anglistik, Universität Innsbruck): The Timescapes of Trauma: Trauer und Temporalität in Chiang, Villeneuve und Federman

Josefine Wagner & Thomas Hoffmann (Arbeitsbereich Inklusive Pädagogik am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung, Universität Innsbruck): „Fibel für Hilfsschulen“ (1942). Rassenhygiene und völkische Sonderpädagogik

Anmerkungen:
1 Hanna Christiansen u. a., Improving Identification and Child-Focused Collaborative Care for Children of Parents With a Mental Illness in Tyrol, Austria, in: Frontiers in Psychiatry 10 (2019), o. S., https://www.frontiersin.org/article/10.3389/fpsyt.2019.00233.
2 Raphaela E. Kaisler und Jean L. Paul, Evidence-based Practice and Policies for Impact on Mental Health of Children and Adolscents, in: fteval Journal for Research and Technology Policy Evaluation, 48 (2019), S. 114–119.
3 Für den Zusammenhang zwischen Immunität und Identität siehe Jean-Luc Nancy, Der Eindringling / L’ Intrus: Das fremde Herz, Berlin 2000.
4 Anne Whitehead, Trauma Fiction, Edinburgh 2004, hier S. 3: „the impact of trauma can only adequately be represented by mimicking its forms and symptoms, so that temporality and chronology collapse, and narratives are characterized by repetition and indirection“.
5 Simone Danz, Menschenwürde – Menschenrecht – Ableismus, in: Behindertenpädagogik – Vierteljahresschrift für Behindertenpädagogik 56, Heft 3 (2017) S. 283–292, hier S. 286.
6 Robert D. Stolorow, Trauma Destroys Time, erstellt am 21. Oktober 2015, in: Psychology Today, https://www.psychologytoday.com/intl/blog/feeling-relating-existing/201510/trauma-destroys-time (28.6.2022).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger